Eigentlich ist Scrum ganz einfach: Ein paar Events, ein paar Dinge, die ein Team erstellen oder machen muss und drei Verantwortlichkeiten. Auf diesem Level ist Scrum in fünf Minuten erklärt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – tun sich viele schwer mit der Idee des Scrum Masters. Was tut ein Scrum Master eigentlich den ganzen Tag? Und brauchen wir die Rolle überhaupt?
Scrum Master:in ist das vielleicht ungewöhnlichste Konstrukt in Scrum und damit für viele Organisationen schwer verständlich: Ein:e Scrum Master:in ist ein „true Leader“, aber ohne hierarchische Funktion oder „Weisungsbefugnis“, wie man das im deutschen Arbeitsrecht nennt. Ein:e Scrum Master:in trägt die Verantwortung für die Effektivität des Teams, aber ohne es anzutreiben und in der Regel auch ohne die Arbeit inhaltlich beurteilen zu können. Ein:e Scrum Master:in ist „ergebnisverantwortlich für die Einführung von Scrum“, aber ohne Entscheidungsbefugnis über die Organisation.
Aus Sicht eines traditionellen Führungsverständnisses klingt das alles reichlich schräg. Scrum liegt aber Selbstorganisation zugrunde, also die Idee, dass sich Organisationen wie Organismen aus dem Verhalten aller Mitarbeiter bilden. Das ist ein völlig anderes Verständnis, als das mechanistische, aus dem frühen 20. Jahrhundert stammende Bild, dass Organisationen vom Management durch die Definition von Prozessen und deren Überwachung geformt werden. Scrum gehört damit in das – reichlich schwammige – Universum des New Work. Und in diesem Universum bekommt ein:e Scrum Master:in plötzlich eine zentrale Rolle.
Um das Konzept eine:r Scrum Master:in zu verstehen, hilft es, die Rolle einer klassischen Produktmanagerin oder Projektleiterin zu zerlegen, wobei sie in drei Tätigkeitsbereiche zerfällt:
- Was wollen wir eigentlich bauen? Für wen bauen wir es und warum? Warum wird es ein cooles Produkt werden? In Scrum fallen diese Fragen in die Verantwortung des:r Product Owner:in.
- Wie bauen wir das Produkt? Welche Schritte sind dafür notwendig? Wer tut was? Für diese Fragen sind in Scrum diejenigen verantwortlich, die die Arbeit auch durchführen, in Scrum Terminologie die Developer:innen.
- Wie arbeiten wir zusammen? Wie können wir besser werden? Und hier hat unser:e Scrum Master:in den Auftritt. Wie die Moderatorin eines Workshops oder ein guter Sporttrainer sorgt ein:e Scrum Master:in dafür, dass das Team gut zusammenarbeitet und gemeinsam zu Höchstform aufläuft.
Und damit wäre die Frage, ob wir eine:n Scrum Master:in brauchen auch schon beantwortet: Wenn es egal ist, wie gut das Team zusammen arbeitet und ob es seine Energie in Reibungsverluste oder in das Ergebnis investiert, braucht man auch keine:n Scrum Master:in. Schließlich braucht eine Amateur-Kickergruppe auch keinen Trainer, wenn sie sich einmal die Woche auf dem Bolzplatz trifft. Wenn man aber professionell arbeiten will, zahlt sich die Investition in eine:n Scrum Master:in schnell aus.
Wie passt Führung und Selbstorganisation zusammen?
Selbstorganisation ist ein grundlegendes Prinzip unserer Welt, sie findet immer statt. Allerdings muss sie nicht die Ziele des Teams unterstützen. Vielleicht dient sie dem Team auch nur dazu, über den Zeitpunkt des Mittagessens zu entscheiden. Scrum nutzt nun Selbstorganisation gezielt, damit das Team flexibel auf Veränderungen reagieren kann. Und das passiert nicht mehr von alleine. Scrum Master werden dafür gebraucht, dass das Team seine Selbstorganisation tatsächlich in die Verbesserung des Produkts und seiner Arbeitsweise investiert, statt sie wirkungslos verpuffen zu lassen oder schlimmstenfalls für Machtspiele zu vergeuden.
Was macht ein:e Scrum Master:in den ganzen Tag?
Das hängt sehr von der Reife des Teams ab. Ist Scrum neu für das Team, wird ein:e Scrum Master:in einen guten Teil der Zeit damit zubringen, das Team an die neue Arbeitsweise zu gewöhnen. Das umfasst organisatorische Aufgaben, Trainings, Einzelcoachings, aber auch die Vorbereitung von Meetings oder Werkzeugen. Dazu zählt aber auch die Arbeit mit anderen Personen, die mit dem Team zusammenarbeiten. Das können andere Teams sein, Linienmanager:innen, Nutzer:innen und Geldgeber:innen bis hin zu Betriebsrat und Personalabteilungen. In der Scrum Terminologie sprechen wir von Stakeholdern. Sie alle müssen verstehen, wie sich ihre Rolle gegenüber einem Scrum Team verändert. Und ein:e Scrum Master:in muss die Bedürfnisse der Stakeholder verstehen und dem Team helfen, auf diese Bedürfnisse zu reagieren.
Je mehr Erfahrung ein Team und eine Organisation haben, umso breiter wird auch das Aufgabenfeld eines:r Scrum Masters:in, so wie die Aufgabe eines Sporttrainers mit zunehmender Leistungsklasse der Sportler immer anspruchsvoller wird. Konflikte im Team müssen frühzeitig erkannt und möglichst konstruktiv aufgelöst werden. Probleme technischer, fachlicher und sozialer Natur müssen erkannt werden und das Team muss dabei unterstützt und geführt werden, diese Probleme zu lösen. Und sowohl Motivation als auch Disziplin im Team müssen aufrecht erhalten werden.
Die wichtigsten Werkzeuge eines:r Scrum Masters:in sind dabei Gespräche und Workshops. Immer wieder geht es darum, Entscheidungen in Gruppen herbeizuführen. Vor allem regelmäßige Retrospektiven dienen dazu, Probleme in der Zusammenarbeit zu adressieren und gemeinsam zu lösen. Das kann innerhalb des Teams sein oder auch mit Stakeholdern oder anderen Teams.
Was passiert ohne Scrum Master?
Scrum erfordert, wie alle agilen Verfahren, vom Team hohe Disziplin. Erfahrungsgemäß haben viele Teams Probleme die nötige Disziplin aufzubringen, um sich neben dem Fokus auf ihr Produkt und die Stakeholder auch noch stetig zu verbessern. Zudem neigen wir alle dazu, Probleme klein zu reden oder ihnen auszuweichen, wie der sprichwörtliche Frosch, der angeblich nicht mitbekommt, dass das Wasser immer heißer wird, bis er verkocht (Biologen bestreiten übrigens diese Geschichte). Die Teams arbeiten dann unterhalb ihres Potenzials. Häufig nehmen Konflikte mehr und mehr Raum ein, bis das Team zerbricht. Organisationen, die sich diese Verschwendung nicht leisten wollen, investieren in gute Scrum Master:innen.