Coaching Praktiken 1
22.02.2021
/ Von Sabine Canditt

In diesem Artikel stelle ich exemplarisch drei Coaching-Praktiken für Individuen vor, die du als Führungspersönlichkeit oder Coach einsetzen kannst, um Selbstorganisation zu ermöglichen. 

Der Führungsstil hat sich gewandelt: die Führungsrolle des 21. Jahrhunderts ist nicht mehr die des Experten oder Machers, sondern die des Coaches. So geben Leader Unterstützung auf eine Art und Weise, die neue Energie, Innovation und Engagement bei Mitarbeitenden, Teams und Organisationen freisetzt. Coaching wird immer mehr zu einem integralen Bestandteil einer Lernkultur – eine Fähigkeit, die gute Leader auf allen Ebenen entwickeln und einsetzen müssen. 

Coaching ist zunächst einmal eine Frage der Haltung: Sie basiert auf der Überzeugung, dass die Coachees kompetent, kreativ und vollständig sind und nicht durch Coaches ‘repariert’ werden müssen. Zum anderen ist es aber auch sinnvoll, eine Reihe von Praktiken und Tools zu beherrschen, die man als Coach einsetzen kann. Solche Tools möchte ich vorstellen, und zwar für das Coaching von Individuen, Teams und Organisationen. Natürlich gibt es noch viel mehr tolle Praktiken, aber dieses 3×3 ist aus meiner Erfahrung ein guter Start.

Die Praktiken für Individuen und Teams bewegen sich ganz bewusst eher im Lösungsraum als im Problemraum. “Reden über Probleme lässt die Probleme wachsen. Reden über Lösungen lässt die Lösungen wachsen” (Steve de Shazer, dem Mitbegründer der Lösungsfokussierten Kurztherapie). Beim Coaching auf Organisationsebene ist es sinnvoll, das System zu analysieren und nach Problemen in Strukturen und Prozessen zu suchen, die ein Hindernis für die Menschen und Teams darstellen können, die in dem System arbeiten sollen. 

Starke Fragen – Powerful Questions

Sinn und Zweck: 

Fragen sind ein wichtiges Werkzeug für Coaches. Starke Fragen helfen der Coachee dabei, ihr Problem oder ihr Ziel aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dadurch kommen sie auf neue Gedanken und Einsichten. Fragen sind die Grundlage für viele weitere Coaching-Praktiken.

So geht’s:

Starke Fragen sind offen, können also nicht mit Ja/Nein beantwortet werden. Hier ist eine generelle Reihenfolge von Fragewörtern, mit denen man möglichst starke Fragen einleiten kann:

  • Warum / Wozu
  • Wie
  • Was
  • Wer, Wann, Wo
  • Ja/Nein-Fragen

Beispiele:

  • Was gefällt dir oder begeistert dich an diesem Vorhaben?
  • Warum ist das wichtig für dich?
  • Was ist das Ziel?
  • Wie ist es dazu gekommen?
  • Was hast du schon versucht?
  • Was brauchst du dazu? Wie kann ich dich unterstützen?
  • Welche anderen Ideen, Gedanken, Gefühle hast du dazu?
  • Was würde passieren, wenn du nichts tust?
  • Kannst du mir ein Beispiel dafür geben?
  • Kannst du mir mehr darüber sagen?
  • Was noch?
  • Was wirst du als nächstes tun?

Tipps und Stolperfallen:

  • Eine große Schwierigkeit für Coaches ist, dass sie oft schon eine Lösung für das Problem der Coachee im Sinn haben. Gerade für Führungskräfte, die es gewohnt sind, Probleme selbst zu lösen, ist es eine Herausforderung, sich zurückzuhalten und das Denken der Coachee zu befördern. Mit der eigenen Lösung im Kopf können Fragen dann suggestiv sein. Beispiel: “Was würde passieren, wenn du mit XY über dieses Thema sprichst?” Besser: “Wer könnte dir bei der Lösung dieses Problems helfen?”
  • Es geht nicht darum, dass du als Coach das Problem verstehst! Je mehr du dich in die Probleme der Coachee hineindenkst, desto eher wirst du in Versuchung sein, sie auch zu lösen. Daher stelle lieber Fragen, die auf die Zukunft ausgerichtet sind. Statt “Was genau ist passiert?” besser: “Was sollte deiner Meinung nach das nächste Mal passieren, wenn es zu einer ähnlichen Situation kommt?” Aus der Hirnforschung (s. z.B. David Rock, “Your Brain at Work”) ist bekannt, dass das Denken an Lösungen eher zu neuen Einsichten führt als das Wälzen von Problemen.
  • Formuliere die Frage einfach und direkt, und erkläre sie nicht. Wenn die Coachee sie nicht verstanden hat, wird sie schon nachfragen.
  • Stelle die Fragen in einem Tempo, das es der Coachee erlaubt, nachzudenken und zu reflektieren, und dann erst zu antworten. Halte die Stille aus, auch wenn es dich viel Selbstbeherrschung kostet. Je länger die Coachee nachdenkt, desto stärker war wahrscheinlich die Frage. 
  • Sei dir bewusst über den Unterschied zwischen “Warum” und “Wozu”? Die Frage nach dem Warum zielt in die Vergangenheit, auf das Problem. Die Frage nach dem Wozu zielt in die Zukunft, auf die Lösung. 

Referenz:

Powerful Questions (powerful-questions.com)

Zuhören

Sinn und Zweck:

Zuhören ist eine Kunst. Oft sind wir eher auf Reden eingestellt, oder wir sind mit unseren Gedanken bei uns und nicht beim Coachee. 

So geht’s:

Die Beschreibung der folgenden drei Level hilft dabei, sich darüber bewusst zu werden und die Fähigkeit zu entwickeln, den richtigen Level für eine Situation einnehmen zu können.

  • Level 1: Der Fokus liegt auf dir selbst. Wenn du auf Stufe 1 zuhörst, achtest du eigentlich auf die Stimme in deinem Kopf – und nicht auf die Coachee. Du denkst zum Beispiel über die nächste brillante Frage, die du stellen könntest. Oder an deinen eigenen Lösungsvorschlag, den du der Coachee gern präsentieren würdest. Oder daran, wie du diesen Impuls zurückhalten kannst. Oder an das bevorstehende Gespräch mit deinem Chef… 
  • Level 2: Der Fokus liegt auf der Coachee. Du bist neugierig und interessiert und zeigst dies durch deinen Gesichtsausdruck, Kopfnicken oder “kommunikatives Grundgrunzen” (“Aha”, “Hmmm”…). Du hörst auch auf das, was zwischen den Zeilen ausgedrückt wird. Du reagierst aus der Perspektive der Coachee, zum Beispiel indem du das, was du wahrgenommen hast, mit eigenen Worten wiedergibst. Diese Art des Zuhörens schafft Vertrauen. Die Coachee fühlt sich ernst genommen und verstanden.
  • Level 3: Der Fokus liegt auf der Energie. Du nutzt alle deine Sinne und nimmst mehr auf als die gesprochenen Worte. Du achtest auf Körpersprache, den Tonfall und die Atmosphäre im Raum. Du nutzt deine Intuition und traust ihr, dass du damit die richtigen Fragen zum Nutzen deiner Coachee finden wirst. Nicht ganz einfach, wenn das Coaching remote stattfindet…

Tipps und Stolperfallen:

  • Viele halten sich für gute Zuhörer, sind aber hauptsächlich auf Level 1 unterwegs. Mach dich darauf gefasst, dass das bewusste Achten auf die unterschiedlichen Level an diesem Selbstbild rüttelt 😉
  • Zuhören auf Level 2 und 3 erfordert, dass du dich nicht von deinen eigenen Gedanken ablenken lässt. Nicht immer ist das möglich, zum Beispiel wenn du selber gerade in einer schwierigen Situation bist. Achte daher auf deine eigenen Gefühle.
  • Ein Trick, sich selbst dazu zu bringen, sich auf die Coachee zu konzentrieren: wiederhole innerlich wörtlich alles, was die Coachee sagt. Damit schützt du dich vor Ablenkung.
  • Du kannst auf unterschiedliche Weise auf deine Coachee reagieren:
    • indem du das Gesagte wiederholst, mit deinen eigenen Worten (Paraphrasieren) oder den Worten der Coachee. Dadurch zeigst du, dass du den Inhalt verstanden hast, und vermeidest Missverständnisse. Eine einfache und sichere Methode, die allerdings auf der kognitiven Ebene bleibt.
    • indem du in Worte fasst, welche Gefühle du bei deiner Coachee wahrnimmst, zum Beispiel “Diese Reaktion scheint dich sehr verärgert zu haben. Ist das so?” Oder: “Wenn du darüber sprichst, merke ich dir deinen Enthusiasmus richtig an!” Dadurch ermutigst du deine Coachee, sich weiter zu öffnen, und verhilfst ihr zu tiefergehenden Erkenntnissen. 

Referenz:

Laura Withworth, Co-Active Coaching: New Skills for Coaching People Toward Success in Work and Life

Aktives Zuhören – Wikipedia

GROW

Sinn und Zweck:

GROW ist ein einfaches, eingängiges und leicht zu merkendes Modell, nach dem man Coaching-Sitzungen gestalten kann. Es hilft dabei, die richtigen Fragen in der richtigen Reihenfolge zu stellen, so das Gespräch besser zu strukturieren und am Ende zu Ergebnissen zu kommen.

So geht’s:

Die Fragen decken folgende Bereiche ab:

  1. G für Goal setting: Definition der kurz- und langfristigen Ziele aus Sicht der Coachee.
    Beispiele für Fragen:
    1. Was soll langfristig erreicht werden?
    2. Was bedeutet Erfolg, und wie könnten wir den messen?
    3. Was ist das Ziel der heutigen Diskussion? Ist es realistisch in der verfügbaren Zeit?
    4. Was muss passieren, dass du am Ende der Session ein gutes Gefühl hast?
  1. R für Realität: Erfassen der derzeitigen Situation (möglichst objektiv, beschreibend, ohne Bewertung)
    Beispiele für Fragen:
    1. Was passiert gerade? (Was? Wo? Wann? Wer? Wie oft?)
    2. Wie sicher bist du, dass das so ist?
    3. Was hast du bisher getan?
    4. Was hält dich zurück?
  1. O für Option: Identifizieren und Evaluieren verschiedener Strategien
    Beispiele für Fragen:
    1. Was könntest du tun, um die Situation zu verbessern?
    2. Was noch?
    3. Wie würde XY in dieser Situation handeln?
    4. Ich habe eine Idee… wollen wir die gemeinsam anschauen?
      Anmerkung: Im Sinne eines gemeinsamen Brainstormings kann der Coach seine Assoziationen, Gefühle, Intuitionen, Ideen… teilen. Er sollte es jedoch der Coachee überlassen zu entscheiden, was sie davon verwertet.
  2. W für Wille: Was will man bis wann erreichen/umsetzen?

Beispiele für Fragen:

  1. Welche Option erscheint dir am erfolgversprechendsten?
  2. Was genau wirst du nun tun? Wann?
  3. Welche Hindernisse könnten im Weg stehen, und wie könnten sie überwunden werden?
  4. Wer sollte einbezogen werden? Wer könnte unterstützen?
  5. Wie sicher bist du auf einer Skala von eins bis zehn, dass du die vereinbarten Handlungen auch ausführen wirst?

Tipps und Stolperfallen:

  • Als Coach lässt du deine Coachee das Ziel definieren. Als Führungspersönlichkeit kann es sinnvoll sein, das Ziel gemeinsam mit der Coachee zu definieren.
  • Es sollte immer erst das Ziel definiert werden, bevor die Situation geschildert wird. Das versetzt die Coachee in einen positiven emotionalen Zustand, was die Kreativität fördert.
  • Es ist völlig ok, eigene Vorschläge (in Form eines gemeinsamen Brainstormings) einzubringen. Es sollte jedoch der Coachee überlassen sein, eine Entscheidung über das weitere Vorgehen zu fällen (sonst ist es kein Coaching, sondern eine Auftragserteilung).

Referenz:

John Whitmore, Coaching für die Praxis – Wesentliches für jede Führungskraft

Sabine Canditt, CST, CEC, CAL Educator

sabine.canditt@improuv.com

Hier gehts zu Teil 2: Praktiken für Teams

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