08.03.2022
/ Von Zoi Natsiopoulou

Von Martin Krensing und Zoi Natsiopoulou

Vor einiger Zeit haben uns die Scrum Master:innen in unserem Projekt mit folgender Frage beglückt: Wir bekommen bald neue Kolleg:innen in die Teams. Das ist ja ganz toll, aber wie kriegen wir die jetzt gut eingearbeitet? Wie schaffen wir den Know-How-Transfer?

Das Schöne an solchen Fragen ist, dass sie universell sind. Wir begegnen ihnen immer wieder in unseren Projekten. Deswegen möchten wir unsere Perspektive auf das On-Boarding und unsere Erfahrungen damit teilen. Der Blog kann auch sehr gut als Leitfaden für einen Workshop verwendet werden. Zumindest haben wir damals genau das getan und uns das Thema gemeinsam mit den Scrum Master:innen erarbeitet.

Dabei haben wir zu Beginn erstmal ein gemeinsames Verständnis über Begrifflichkeiten geschaffen, die einem beim Thema On-Boarding über den Weg laufen.
Darauf aufbauend konnten wir ein Modell zur Begleitung des On-Boardings vorstellen. Die Teilnehmer:innen haben das Modell mit Leben gefüllt, indem sie ein auf ihre neuen Teammitglieder zugeschnittenes initales Onboarding-Backlog mit Themen und Lernmethoden erstellt haben.

Die Grundlagen

Das Thema On-Boarding ist aus unserer Sicht primär ein Thema von Lernen und Kennenlernen, Wissensaufbau, Kompetenzerwerb und das Eingehen sozialer Verbindungen. In agilen Software-Projekten findet die Entwicklung vorzugsweise in selbstorganisierten, cross-funktionalen und lernenden Teams statt. Dafür braucht es zusätzlich soziale Kompetenzen wie z.B. Kommunikationsfähigkeit, aber auch Wissen darüber, wie agiles Arbeiten funktioniert und was es bedeutet.

Als Einstieg haben wir daher mit den Teilnehmenden gemeinsam die Grundlagen/Begrifflichkeiten erarbeitet.

Wissensgebiete

Wir haben das Ganze mit der Annahme gestartet, dass wir uns in einem komplexen Umfeld befinden. Die Entwicklung von Software ist komplex. Sie ist eine wissensintensive Tätigkeit, die sowohl allgemeines technisches Wissen als auch Expertise in spezifischen Domänen erfordert.
Wir haben die folgenden Wissensgebiete mit jeweiligen Lernfeldern gefunden.

Übersicht über Lernbereiche

Neue Mitarbeiter:innen stehen vor der Herausforderung, sich gut in die Organisation und in die Teams zu integrieren und dadurch vollwertige und produktive Mitglieder zu werden. Dazu müssen sie sich Wissen aus unterschiedlichen Gebieten aneignen. Wir haben drei Wissensgebiete definiert: Fachlich, Technisch und Organisation.  Die Neuen müssen sich Wissen über die Produkte oder Dienstleistungen des Unternehmens, das technische Umfeld und die Organisationsstrukturen erarbeiten. Gleichzeitig brauchen sie Informationen darüber, wie das Team arbeitet und wie es „tickt“. Die Abbildung zeigt für jeden der Lernbereiche Beispiele. Diese sind geordnet von übergreifend, also organisationsweit hin zu indiviudell. Die Sortierung ist nützlich, da sich die Lernmethoden hier unterscheiden. Wir haben diese Darstellung der Lernbereiche verwendet, weil sie einen guten Rahmen und gleichzeitig Flexibilität bietet, um an die realen Anforderungen des Kunden angepasst zu werden.

Wissens- und Lernarten

Nachdem wir die Wissensgebiete beschrieben haben stellen wir uns die Frage, ob es ausreicht einen supi-dupi Plan auszuarbeiten und den neuen Kolleg:innen ein 250-seitiges Pamphlet auf den Tisch zu legen?! So nach dem Motto „Macht mal“. Die Teilnehmenden unseres Workshops waren sich recht schnell einig: Nein, es reicht definitiv nicht aus. Dazu ist Lernen zu komplex und individuell.

Über eine kurze Diskussion konnten wir zwei Wissensarten herausarbeiten: Explizites und implizites Wissen. 
Die Basis für unsere Überlegungen bildet das SECI-Modell (Nonaka & Takeuchi, 1995), das wir für uns und unsere Zielgruppe adaptiert und visualisiert haben.

Eisberg Modell

Expliztes Wissen kann beispielsweise in einem organisationsinternen Wiki dokumentiert werden. Implizites Wissen ist Erfahrungswissen der Organisationsmitglieder, also etwas „können, ohne genau sagen zu können wie“.
Wenn wir das Lernen als die Aneigung von explizitem und impliziten Wissen verstehen, lassen sich zwei Lernarten unterscheiden: 
Das Erlernen von explizitem Wissen bezeichnen wir als Wissensaufbau.
Das Aneigenen von implizitem Wissen nennen wir hingegen Kompetenzerwerb. 

Lernmethoden

Für die zwei Lernarten gibt es unterschiedliche Lernmethoden. Als Lernmethode verstehen wir ein konkretes Vorgehen das beschreibt, wie man sich Wissen bzwl. Kompetenzen aneignet. In unserem Workshop wollten wir von den Teilnehmer:innen wissen, welche Lernmethoden sie bereits kennen. 
Die Ergebnisse eines kurzen Brainstormings können sich sehen lassen. Von Checklisten, Pair-Programming, Socializing, einen Mentor zur Verfügung stellen und kleine Lernvideos von Kolleg:innen für Kolleg:innen aufzunehmen, bis hin zu persönlichem Coaching – es wurden viele tolle und praxistaugliche Ideen vorgestellt und diskutiert.
Wir haben einige davon in Verbindung zu den zwei Lernarten Wissensaufbau und Kompetenzerwerb gebracht. Nicht jede Lernmethode passt zu jedem Lernfeld. Wie soll beispielsweise ein Handbuch oder Video etwas vermitteln, das die Kolleg:innen rein intuitiv machen, weil sie das System über Jahre kennen? 

Übersicht der Lernmethoden

Lernumgebung und individuelle Lernstile

Wir können also festhalten, dass es zwei unterschiedliche Arten von Wissen (Explizit, Implizit) und dazu passende Lernarten (Wissensaufbau, Kompetenzaufbau) gibt. Zu den Lernarten gibt es jeweils passende Lernmethoden. Dazu gesellen sich jetzt noch Lernumgebungen und individuelle Lernstile.

Wissensaufbau und Kompetenzerwerb haben unterschiedliche Anforderungen an die Lernumgebung. Eine für den Wissensaufbau lernfördernde Umgebung sollte beispielsweise Zeit und Rückzugsmöglichkeit bieten. Kann ich in einem Teamraum in Ruhe ein Einführungsvideo ansehen?  Darüberhinaus fordert der Kompetenzerwerb eine sichere Lernumgebung. Das Wort „sicher“ bezieht sich hier auf die soziale Umgebung. Es geht also um die psychologische Sicherheit als Rahmenbedingung. Sieht die Organisation das Lernen aus Fehlern als eine Lernchance und fördert sie es? Hier spricht man häufig von Fehlerkultur. Aus unserer Sicht passt der Begriff Lernkultur besser, da das Lernen aus Fehlern nur eine Voraussetzung für eine gute Lernumgebung für den Kompetenzerwerb darstellt .

Jeder lernt individuell. Manche Menschen mögen die Herausforderung, gleich mit echten Aufgaben zu starten, andere brauchen mehr Sicherheit und möchten sich lieber langsam herantasten. Manche brauchen Theorie vor Erfahrung, manche umgekehrt (Kolb, 1984). 
Wir sehen individuelles Lernen als eine Kombination aus Lernmethoden und passender Lernumgebung an. So können wir unterschiedliche Lernstile beachten.

Damit haben wir ein gemeinsames Domainenmodell des Lernens erarbeitet (Lächeln). Nun können wir unsere On-Boarding Reise antreten.

Die On-Boarding Reise

Nachdem ein gemeinsames Verständnis für den Kontext und die Rahmenbedingungen für gutes On-Boarding geschaffen wurden, haben wir das Modell von Talya N. Bauer (2010) als Grundlage für eine Gruppenübung genommen. Für alle, die gerne Theorie studieren und sich wundern, warum es ganz anders als im Buch ist: Auch dieses Modell haben wir an unsere Zielgruppe und den agilen Kontext angepasst.

Das Tolle an diesem Modell aus unserer Sicht ist, dass der Recruiting-Prozess bereits Teil des On-Boardings ist. Schließlich geht es darum, auf Seiten der Bewerber:innen realistische Erwartungen des Unternehmens und der Rolle zu formen. Hier ist ein agiler Recruiting-Prozess besonders wichtig, in dem die Teammitglieder idealerweise von der Bewerbung bis zur Entscheidung einbezogen werden. Das hilft später bei der Integration der/des Neuen in das Team und erzeugt weniger Widerstände. Am besten lernen sich Kandidat:in und Team in einer echten Situation wie bspw. dem Daily kennen, mit anschließender Arbeitsprobe und gemeinsamem Mittagessen. So kann die Stimmung im Team genauso wahrgenommen werden wie die Arbeitsweise und die Art bzw. der Anspruch der Aufgaben. Besonders wertvoll wird es, wenn sich das Team gemeinsam um dieses Kennenlernen kümmert und das Ganze plant und durchführt. HR sehen wir hier eher in einer Beratungs- und Unterstützungsfunktion.

In der Orientierungsphase geht es darum, Informationen zu liefern. Hier können Anleitungen, Checklisten, Handbücher, Videos und andere formalisierte Dokumente erste Anhaltspunkte liefern. Idealerweise stellt man in dieser Phase eine Mentor:in zur Seite, um Informationen zur Kultur, Umgangston und Historie des Unternehmens bzw. des Teams zu vermitteln. So ist es gut zu wissen, wo man sein Büromaterial bekommt, aber vielleicht sollte man nicht vor 12 Uhr in den Raum, weil der Kollege dort ein Morgenmuffel ist?

Die nächsten beiden Bereiche, Coaching & Training sowie Feedback-Tools, gehören für uns zusammen und sind als wiederkehrender Kreislauf zu sehen, der hoffentlich auch nach dem On-Boarding weitergeht. Schließlich sind wir nach Scrum organisiert, und Lernen gehört zum Framework einfach dazu. Hier können wir viel von Scrum adaptieren, um den Prozess gut zu gestalten. Es hat sich bewährt, dass Teams Einarbeitungsstories zusammen mit den neuen Kollegen erarbeiten und sie in das Team-Board integrieren. Die Stories durchlaufen den ganz normalen Flow, sind Teil des Reviews und werden in der Retrospektive reflektiert. Bilaterales Feedback ist hier sehr wichtig. So können die Stories für den nächsten Sprint an den Bedürfnissen der neuen Kollegen, also deren individuellen Lernstil, angepasst werden. Während des Doings können Methoden wie Pair-Programming und Coaching, aber auch Trainings und Workshops den Lernprozess unterstützen. Bei den fachlichen Inhalten sollte aber immer der Fokus auf der Umsetzung liegen: Ergebnisse in kurzen Zyklen, auch wenn sie noch so klein oder fehlerhaft sind, zählen mehr als umfangreiche und perfekt umgesetze Aufgaben. Schließlich sollen sich die Neuen an schnelle Feedbackzyklen und Lernen gewöhnen.

Das Ziel der On-Boarding Reise ist erreicht, wenn die „Neuen“ vollwertige und produktive Mitglieder der Organisation sind. Wie erwähnt darf hier das individuelle Lernen nicht enden. Das ganze Leben ist bekanntlich ein Quiz und damit eine nicht endende Lernreise. 

Wir haben im Anschluss an diesen kurzen Theorie-Input die Teilnehmenden in zwei Gruppen aufgeteilt und ihnen die Aufgabe gegeben, mit dem bis hierher erworbenen Wissen und Erkenntnissen und unter Berücksichtigung ihrer Arbeitsweise sowie den vorhandenen organisatorischen Bedingungen ein initiales On-Boarding Backlog zu erarbeiten. Welche Themen seht ihr bei euren Teams, wie würdet ihr das On-Boarding methodisch begleiten? Wir haben uns sehr über die Ergebnisse gefreut. Alle waren hochmotiviert, das eine oder andere auszuprobieren, in der Scrum Master CoP ihre Erfahrungen zu teilen und an dem Thema weiter zu arbeiten.

Definition On-Boarding

On-Boarding = Organizational Socialization

„Onboarding refers to a process that helps new employees learn the knowledge, skills & behaviors they need to succeed in their new organisation“ (S. 21, Bauer, T.N., Erdogan, B.: Organizational socialization: The effective onboarding of new employees. In: Zedeck, S. (ed.) APA Handbook of Industrial and Organizational Psychology, vol. 3, pp. 51–64. American Psychological Association, Washington, DC (2011)

Noch mehr zu diesem Themencluster findest du in einer dreiteiligen Blogbeitrags-Serie über HR und Agile Transformationen

Quellen

Bauer Talya N.; Onboarding New Employees: Maximizing Success; 2010

Nonaka I. & Takeuchi H., The knowledge creating company: How Japanese Companies create the dynamics of innovation, 1995

Kolb D., Experiental Learning: Experience as the Source of Learning and Development, 1984

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