Braucht man in einer agilen Welt, in der alle von Selbstorganisation sprechen, überhaupt noch Führung? Unsere Meinung: mehr denn je, aber eine andere Art der Führung als im letzten Jahrhundert. Eine Führung, die es Menschen und Organisationen ermöglicht, in einer unsicheren und sich ständig verändernden Welt zu agieren, zu überleben und immer weiter zu lernen.
Diese Führung kann an eine hierarchische Position gekoppelt sein, muss es aber nicht sein. De facto findet sogar die meiste Führung unabhängig von definierten Strukturen statt. Unterschiedliche Menschen können sie in unterschiedlichen Momenten einnehmen. Was man dazu braucht: innere Agilität, also die Bereitschaft und Fähigkeit, sich selbst weiterzuentwickeln. Und äußere Agilität, die auf andere, Teams und ganze Organisationen Einfluss ausübt und Wirkung erzielt.
Elemente agiler Führung
Die wesentliche Aufgabe agiler Führung ist es, Selbstorganisation mit Fokus auf Ergebnisse entstehen zu lassen:
- Fokus: Gerade in selbstorganisierten Systemen ist eine klare Ausrichtung notwendig, um zu verhindern, dass man sich verzettelt. Führungspersönlichkeiten sorgen für eine gemeinsame Vision, Zielsetzung, Strategie und Richtung: welche Initiativen und Themen angegangen werden, welche nicht, und wie die vorhandenen Mittel eingesetzt werden. Für alle ist klar, warum diese Entscheidungen getroffen werden und welchen übergeordneten Leitlinien das Unternehmen folgt.
- Alignment und Inspiration. Der Fokus ist eine Einladung, an einem großen Vorhaben mitzuwirken. Selbstorganisierende Systeme lassen sich nicht direkt steuern. Selbstorganisation funktioniert nur freiwillig. Die Mitarbeiter und Teams „müssen es wollen“, und zwar gemeinsam. Führungspersönlichkeiten kommunizieren ihre Absicht, also Sinn und Zweck und das erwartete Ergebnis. Sie beeinflussen das Engagement der Mitarbeitenden, indem sie agiles Verhalten vorleben. Sie schaffen einen sicheren Raum, in dem zuerst unterschiedliche Meinungen gehört und gefördert werden, dann aber auch der Übergang von divergentem zu konvergentem Denken und Handeln entsteht.
- Enablement. „Wollen“ allein reicht nicht, man muss auch können. Die Teams und Mitarbeiter brauchen das Wissen, die Informationen und die Fähigkeiten, komplexe Probleme eigenständig zu lösen. Führungskräfte fördern das selbständige Denken der Menschen, das die Voraussetzung für eigenverantwortliches Handeln ist. Sie schaffen einen Raum zum Experimentieren, in dem Irrtümer als Möglichkeit zum gemeinsamen Lernen genutzt werden. Sie wirken als Coach und Mentor bei der Weiterentwicklung von Individuen und Teams.
- Empowerment. Selbstorganisation ist nicht Laissez-faire. Ein „plötzliches“ Loslassen und Übertragen jeglicher Verantwortung hinterlässt ein Führungsvakuum und könnte ins Chaos münden. Führungspersönlichkeiten setzen Richtlinien und „Delegation Levels“, wer was mit wem entscheiden darf und wie Verantwortlichkeiten verteilt sind. Sie vereinbaren realistische Ziele und unterstützen bei der Umsetzung. Oftmals werden klassische Strukturen und Prozesse zum Hindernis. Eine silo-artige, hierarchische Organisation führt zum Beispiel dazu, dass Mitarbeitende ihren Beitrag zum „Großen Ganzen“ nicht erkennen und ein lokales Optimum erzeugen. Anpassungen der „Leitplanken“ ist notwendig, um Teams mehr Freiräume zur Verbesserung ihrer Leistung einzuräumen. Dazu gehört auch, dass ich als Führungspersönlichkeit einschreite, wenn ich ernsthaften Schaden für das Unternehmen befürchte.
Was bedeutet agile Führung für mich persönlich?
„Nur wer sich selbst führen kann, kann auch andere führen“ (Anselm Grün).
Agile Führung fängt bei der eigenen Haltung an. Als Führungspersönlichkeit vertraue ich den Mitarbeitenden, dass sie willens und fähig sind, selbstorganisiert zu handeln und Ergebnisse zu erzielen bzw. sich in diese Richtung weiterzuentwickeln. Meine Aufgabe ist es nicht, heroisch Probleme selbst zu lösen, sondern Menschen zu beflügeln, darin besser zu werden als ich selbst. Durch diese innere Überzeugung kann ich authentisch als Vorbild handeln, Feedback geben, Einfluss ausüben und die Mitarbeitenden bei ihrem persönlichen Wachstum unterstützen.
Als agile Führungspersönlichkeit entwickle ich mich selbst ständig weiter. Ich kenne meine eigenen Werte und Antriebe und orientiere mich daran. Ich bin mir über meine eigenen Gefühle bewusst und kann mein Verhalten auch in emotional schwierigen Situationen steuern. Meine Mitmenschen behandle ich mit Respekt und Empathie. Ich erkenne mit Hilfe von Feedback, welche Wirkung ich auf andere habe, und kann mein Verhalten und damit die Beziehungen zu anderen entsprechend beeinflussen. Ich entwickle unterschiedliche Führungsstile, die ich je nach Situation anwenden kann.
Führung eines agilen Unternehmens
Agilität ist eine Kulturfrage. Unternehmenskultur ist geprägt von Überzeugungen und Glaubenssätzen, die sich nicht direkt und schnell verändern lassen, aber wesentlich durch die Erfahrungen mit dem Führungsverhalten geprägt werden. Solche Glaubenssätze können sein: „Ober sticht Unter“, „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein verdammt schnelles Pferd“, oder aber „Ich kann mit meiner Meinung etwas verändern“.
Die traditionelle Führung ist formal bzw. legitimiert, d.h. bestimmte Befugnisse (Erteilung und Kontrolle von Aufträgen, Belohnung, Bestrafung) sind an die Rolle oder die Stellung in der Unternehmenshierarchie gebunden. In einer agilen Organisation ist Führung verteilt. Im Idealfall werden Entscheidungen von denjenigen getroffen, die dazu am besten in der Lage sind. Zum Beispiel ist jede der drei Scrum-Rollen eine Führungsrolle, die in Form einer „Gewaltenteilung“ bestimmte Aspekte abdeckt. Der Umstieg von traditioneller zu agiler Führung bedeutet also einen anderen Umgang mit Macht. Wenn ich formale Macht habe, sollte ich diese nicht verleugnen (das führt zu Verwirrung).
Als Systemdenker:in nutze ich legitimierte Macht, um die Randbedingungen (Strukturen, Prozesse, Ziel-, Controlling- und Beurteilungssysteme) zu ändern, die sich auf das Denken und Verhalten von Menschen auswirken. Zur direkten Steuerung setze ich sie nur in Ausnahmefällen ein (z.B. bei Regelverletzung, unbefriedigender Leistung).
Bei aller Agilität darf ich nicht vernachlässigen, dass eine langfristig erfolgreiche Organisation unterschiedliche Modi parallel fahren muss:
- Innovation, Resilienz: die Fähigkeit, den Status Quo zu stören, um neue Produkte und Services zu schaffen und schnell auf den Markt zu bringen, und Krisen als Anlass für Entwicklung zu nutzen. Dazu brauchen wir den Umgang mit Variabilität, sprich Agilität!
- Operational Excellence, Effizienz: die Fähigkeit, sicher, schnell und kostengünstig zu liefern und das auch über die Lebenszeit von Produkten und Services aufrecht zu erhalten. Dazu brauchen wir Standards und Wiederholbarkeit und eine möglichst geringe Variabilität – Agilität ist da manchmal vielleicht sogar hinderlich.
- Evolving / Learning Organisation: die Fähigkeit, individuelle Kenntnisse und Erfahrungen für die gesamte Organisation verfügbar zu machen. Auf Basis dieses Wissens muss sich die Organisation an die sich verändernde Lage anpassen. Auch das ist agil, aber eine Erweiterung des Blickwinkels über Kunden und Märkte hinaus.
Als Führungskraft verstehe ich die Notwendigkeit und den möglichen Nutzen von Agilität in meinem Unternehmen. Ich kenne die Bedeutung von selbstorganisierten, funktionsübergreifenden Teams und weiß, wann ich sie sinnvoll einsetzen und wie ich sie fördern kann. Ich denke systemisch und arbeite mit den Wechselwirkungen in einem komplexen Organisationssystem, das aus mehreren Teams, anderen Einheiten, Netzwerken und informellen Strukturen besteht.
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- CAL-Essentials: Sich selbst und andere Menschen führen
- CAL-Teams: Teams führen
- CAL-Organsation: Organisationen führen