12.05.2020
/ Von Christoph Mathis

Was Corona mit der Agilität macht.

Agilität hat ja den Anspruch, die Flexibilität eine Unternehmens zu erhöhen. Dann müsste man erwarten, dass jetzt die Stunde der Agilisten schlägt. Tut es aber nicht, zumindest nich durchgängig.
In mehreren Unternehmen bekomme ich mit, dass gerade ein ganz anderer  Wind herrscht. Zurück zu Command und Control, Ansagen, die ganz alte Nummer. Das erscheint mir erstmal ziemlich paradox und ich suche eine Erklärung.

Laloux‘ Gesellschaftsstufen als Erklärungsmuster?

Kollegen haben die Laloux-Kategorien herangezogen und beobachtet, dass sich der Typ ihrer Organisation ein oder sogar zwei Stufen zurückentwickelt.  Frederick Laloux (Reinventing Organizations, 2014) beschreibt, wie sich Gruppen / Gemeinschaften entwickeln – oder zurückentwickeln,  wenn sie unter Stress stehen. Dabei verwendet er Typen

  • Stammesgesellschaft: Diese Organisationsform wird vor allem durch Machtausübung gegenüber Untergebenen dominiert. Im eher chaotischen Umfeld hält Angst die Organisation zusammen. Beispiele sind Mafiastrukturen.
  • Traditionell: Eine stark autoritäre Organisation mit formalisierte Rollen in einer Hierarche und strikten Prozessen. Beispiele hierfür sind viele Behörden.
  • Modern: Konkurrenz, Expansion und Profite dominieren diese Organisationsform. Beispiel hierfür sind typische Großunternehmen.
  • Postmodern: Neben die Hierarchie rücken gemeinsame Werte in den Vordergrund. Empowerment wird zum wichtigen Mittel um herausragende Motivation zu erreichen.
  • Evolutionär: Hier sind Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit, Authentizität und Ausrichtung auf den Sinn die bestimmenden Elemente.

Ich finde es eine schöne Beschreibung von Archetypen, kann aber daraus nicht viel Erkenntnis für mögliche Reaktionen in der jetzigen Situation ziehen – es ist mir zu deskriptiv, zu fatalistisch, zu viel Schicksal. Wenn ich diesem Modell folge, muss ich mich in mein Schneckenhaus zurückziehen und überwintern.

Das kann zwar angemessen sein, um die Beharrungskräfte eines Systems auszunutzen (ich habe das auch schon getan), ist aber nicht wirklich befriedigend und hat wenig Handlungsperspektive.

Kann uns Cynefin helfen?

Vielleicht komme ich weiter, wenn ich nicht Laloux, sondern David Snowden’s Cynefin Framework zur Analyse heranziehe, und tatsächlich werde ich da fündig:  Cynefin unterscheidet Kontexte und kategorisiert Muster für angemessene Aktionsmuster:

  • Offensichtliche Kontexte: das dominante Aktionsmuster  ist: wahrnehmen – kategorisieren – reagieren. Das ist die Welt der kodifizierten ‚best practices‘, klarere Restriktionen und fester Hierarchie. Das klassische Beispiel ist die Fließbandarbeit.
  • Komplizierte Kontexte: ein Beispiel ist die Reparatur eines Flugzeugs am Boden. das dominante Aktionsmuster ist wahrnehmen – analysieren (im Gegensatz zum einfacheren Einordnen) – reagieren. Die Praktiken sind nicht „best practices“, d.h. nicht abschliessend definiert, sondern „good practices“, d.h. es gibt Erfahrungswerte, aber deutlich mehr Spielraum. Auch das Führungsbild ist anders: in dem Wartungsbeispiel wäre das ein Team Lead, der sich von den Spezialisten in seinem Team beraten lässt. Das Wissen ist das Erfahrungswissen der Mitarbeiter und normalerweise ein Handbuch oder ähnlich.
  • Komplexe Kontexte: hier gibt es viele Überraschungen, weniger Vohersagbares. Das dominante Aktionmuster ist: testen („probe“) wahrnehmen – reagieren. Das kann man leicht in das Haupt-Vorgehen in einem agilen Entwicklungsprojekt übersetzen, in dem Experimente einen „discovery“ oder Erkenntniszyklus speisen, der über den Backlog in einen „delivery“-Zyklus wie den Scrum Sprints eingeht. Hier ist das selbstorganisierte Team angemessen und die Führungsbilder rund um den „servant leader“. Noch ein Blick auf die Rolle des Lernens: Prozessbegleitendes Lernen und kontinuierliche Verbesserung sind in diese Prozesse fest eingebacken – über Mechanismen wie „probe“, d.h. die Durchführung von Experimenten und Veranstaltungen wie den regelmäßigen Retrospektiven.
  • Chaotische Kontexte: das ist die typische Notfallsituation wie Feuerwehreinsatz oder Verkehrsunfall mit Schwerverletzten. Das Aktionsmuster ist: Handlen, Wahrnehmen, Reagieren („act, sense, respond“). Es ist keine Zeit zum Diskutieren. Beim Lernen nutzt man das Wissen, das man vorher angesammelt hat.

Die aktuelle Situation enthält für das Business Umfeld einige Elemente von Chaos – in einigen Branchen wie Luftfahrt, Touristik und evtl Automobil ist es eindeutig chaotisch. Jetzt setze ich das agile Toolkit daneben, das hauptsächlich für komplexe Umgebungen entwickelt wurde und jetzt wundere ich mich nicht mehr, dass die Führungsetagen weniger geneigt sind, auf die Meinung der Agilisten zu hören. Wenn ich will, dass die Ideen, Werte und das Menschenbild weiterhin eine Rolle spielen, muss ich Antworten finden, die in diese Zeit passen. Die können darüber entscheiden, ob die Agilität in den Firmen zurückgedrängt oder befördert wird.
Bevor ich dazu komme, möchte ich noch Faktoren aufzählen, die für einen Boot oder einen Backlash sprechen könnten.

Was einen Backlash begünstigt

  • Das gute alte Muskelgedächtnis der Organisationen: das Wort hat Ken Schwaber seit den Anfangszeiten von Scrum verwendet, um zu beschreiben, dass Organisationen dazu neigen, wieder in altgewohnte Bahnen zu verfallen – umso mehr, wenn sie mit Stress-Situationen konfrontiert sind
  • Die Reaktion der Verlierer der Agilität: wie bei jedem anderen Change gibt es auch bei Einführung agiler Strukturen Verlierer: Menschen, die Positionen, Einfluss, gewohnte Privilegien und Entscheidungsbefugnisse verlieren oder denen das ganze einfach unangenehm ist, weil es ihrer persönlichen Art zu arbeiten widerspricht. Die kommen aus der Deckung und nutzen die Situation
  • Und schließlich die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen einer hierarchischen Planung und Arbeitsteilung, die in einer einfachen oder komplizierten Umgebung gute Ergebnisse bringt. Es erscheint einfach passend, die alten Muster wieder herauszuholen und zu re-etablieren.

Das große Missverständnis dabei entsteht durch die oberflächliche Ähnlichkeit – und das Gleichsetzen – der Führung in komplizierten bzw. chaotischen Umgebungen.

Was für einen Boost spricht

  • Resilienz, d.h. die Fähigkeit, auf Überraschungen zu reagieren, ist essentiell, um heil aus der aktuellen Situation herauszukommen. Wenn es gelingt, diese Fähigkeit, die der Agilität zugeschrieben werden, zu aktivieren, können sie sehr nützlich, wenn nicht essentiell sein.
  • Business Agility. Dazu ist ein weiterer wichtiger Baustein notwendig: das Verständnis, dass Agilität beim Agieren auf einem veränderlichen Markt anfängt und dass sich die Ideen zu Strukturen und die Kultur daraus ableiten: sie sind ein Beitrag zu einem florierenden Unternehmen. Allzu oft wird Agilität auf das Befolgen bestimmter Regeln, wie zum Beispiel den Scrum Prozeß reduziert. Das führt zum dritten Punkt:
  • Agilität ist kontextbedingt. Sie trägt mit einer konsequenten Orientierung auf empirisches Arbeiten, (d.h. die Konsequenzen auf Erfahrungen in das Handeln einfließen lassen) den Aspekt des Lernen in den Mittelpunkt der Arbeit: Arbeiten ist Lernen (Peter Senge)

Boost statt Backlash – Ideen zur Stärkung der Agilität in der Krise

  1. Stabilisierung und Vergewisserung der Werte. Wenn man die Werte der verschiedenen Kontexte nebeneinander legt, fällt sofort eine Konstante ins Auge: Respekt. Der Spiegel im Verhalten der Menschen ist: verantwirtliches Handeln –  Accountability. Wenn man dieses Wertepaar stärkt, kann man gerade in der Krisensituation eine langfristig wirkende Stärkung der Kultur der Organisation erreichen.
  2. Fokus auf den Wertbeitrag der Agilität: Resilienz hat heute ihren Wert, in einer chaotischen Umgebung speist sie sich zu einem erklecklichen Teil aus den gelernten Lektionen der Vergangenheit: wie können diese Lektionen effektiv aktiviert werden, welche Strukturänderungen sind angelegt, die nutzbar gemacht werden können, wo gibt es Vertrauenskapital, das man aktuell nutzen kann.
  3. Das Zielbild schärfen, oder: wie kommt man aus der chaotischen Situation wieder heraus. Es ist verführerisch, die Kommandostrukturen als Reaktion auf die Krise zu aktivieren – und sie dann einfach aktiv zu belassen („bitte, geht doch“). Sie sind aber nicht nachhaltig gut, sie brauchen Gelerntes auf, d.h. sie zehren vom gesammelten intellektuellen und kulturellen Kapital. Agilität muss zur Antwort auf die Frage beitragen, wo und wie die angemessenen Strukturen, Arbeitsweisen und Kultur für eine hoffentlich wieder „nur“ komplexe Welt wieder etabliert werden.

Ich glaube, dass das die Reaktion auf diese Situation wichtig für die Wahrnehmung des Beitrags der Agilität für das Wohlergehen der Menschen und der Organisationen  sein wird. Wir Agilisten können ernsthafter Partner für die Nutzung verschiedener Wissensquellen und Konzepte sein, wenn wir uns nicht einfach beleidigt in unser Schneckenhaus zurückziehen.

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