Als mein Handy am Nachmittag des 29. Februars wieder Netzabdeckung bekam, ahnte ich noch nicht, dass die drei Nachrichten auf meiner Voicebox die Vorboten eines Umbruchs waren, wie ich ihn bisher nicht erlebt hatte. Glücklicherweise hatten meine Frau, mein Sohn und ich die Faschingsferien nicht genutzt, um wie in vorigen Jahren in Tirol alpin Ski zu fahren, sondern wir waren zum Langlaufen in eine Selbstversorgerhütte in einem abgelegenen Seitental hinter Bayerisch Zell gegangen, weitab von jeder Funkabdeckung. Und so hatte ich nicht mitbekommen, wie die Kollegen eine Stornierung nach der anderen entgegennehmen mussten. Zwölf Tage später war improuv im Homeoffice und alle Trainings für die nächsten drei Monate waren storniert – mit ungewissen Aussichten für die Zeit danach.
Wir standen exakt vor der Situation, die wir mit unseren Kunden in Trainings und Workshops immer wieder diskutiert hatten: Agilität bedeutet, schnell auf Veränderungen von außen reagieren zu können. Nun, die Veränderung war da. Ohne Vorwarnung traf sie auch uns unvorbereitet. Trainings sind normalerweise der stabile Pfeiler unseres Geschäfts. Termine werden oft sechs Monate im Voraus vereinbart, und zumindest die Zertifizierungstrainings sind auch inhaltlich eher stabil. Probleme in der Logistik sind normalerweise der größte Störfaktor, wenn Paketdienste Sendungen zwei Wochen lang durch ihre Zentren kreisen lassen, statt sie rechtzeitig zu liefern.
Nun war dieses Geschäft binnen zwei Wochen in die chaotische Domäne gerutscht. Und existenziell bedroht. Würde sich improuv als agil genug erweisen, diese Bedrohung in eine Chance umzuwandeln?
Die kurze Antwort auf die Frage lautet: Ja, wir haben es geschafft. Die wesentlichen Zutaten dafür waren Teamarbeit und enge Kommunikation, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit unseren engsten Kunden, schnelle Lieferung neu konzipierter Live-Online-Trainings und die Bereitschaft alle ausgetretenen Pfade neu zu denken. Das passt nicht nur zufällig gut zu den vier Werten des Agilen Manifests.
Ich möchte hier aber nicht in die Details der folgenden Wochen eingehen, sondern über den Wandel schreiben, der sich heute, neun Monate nach diesem Einschlag immer stärker herausbildet. Irgendwann wird es wieder ein Leben ohne Infektions- und Lockdown-Gefahr geben, aber ein „Zurück in die Vergangenheit“ wird nicht stattfinden. Stattdessen sehen wir immer klarer, wie eine Nach-Corona-Trainingswelt aussehen könnte.
Virtuelle Lieferung
Da ist zum einen der offensichtliche Wandel hin zum Live-Online-Training. Wir wissen mittlerweile, wie man auch über das Internet Trainings so gestalten und takten kann, dass sie dennoch spannend und unterhaltsam bleiben und die Teilnehmer*Innen voranbringen (Hier könnt Ihr einen internen Erfahrungsaustausch verfolgen). Noch immer bekommen wir zuverlässig nach jedem Training das Feedback „Ich hätte nie gedacht, dass ein Online Training so viel Spaß machen kann“. Es wird für uns immer klarer, dass Online Trainings nicht nur ein Notbehelf in der Pandemie sind, sondern gekommen sind, um zu bleiben.
Das bedeutet nicht, dass die „guten alten“ Präsenztrainings ausgedient hätten: In den kurzen Phasen in denen wir unseren Kunden beide Formen anbieten konnten, haben sich etwa 50% für Präsenztrainings entschieden. Stellt man dann noch in Rechnung, dass die Vorliebe für Online Trainings oft pandemische Gründe hatte, bleibt ein Potenzial von vielleicht 20-30% von Teilnehmer*Innen, die vor allem die Vorteile von Online Trainings sehen: Man muss nicht anreisen, es lässt sich besser in die Berufsabläufe integrieren und gerade in internationalen Organisationen ist die Arbeit mit Headset und Videofenster ohnehin tägliche Routine. Zudem ist der logistische Aufwand deutlich geringer, zumindest wenn die technische Infrastruktur einmal etabliert ist.
Was geringe Fixkosten ermöglichen
Das eigentliche Potenzial von Online Trainings liegt unseres Erachtens aber gar nicht darin, die klassischen Zwei-Tages-Trainings anders zu liefern. Das eigentliche Potenzial liegt darin, dass die geringeren „Fixkosten“ neue Trainingskonzepte erlauben. Statt des großen Trainings, das alle notwendige Lernziele in zwei Tage presst, werden kleine Häppchen von ein oder zwei 90-Minuten Blöcken zu speziellen Themen angeboten. Unser Angebot zu Online Retrospektiven ist ein erster Vorgeschmack, womit wir in den nächsten Monaten rechnen. Die Teilnehmer*Innen können solche Häppchen deutlich besser in ihre Tagesplanungen integrieren und die Hürden zur Teilnahme sind deutlich geringer.
Auch im Zertifizierungsbereich sehen wir erste Tendenzen in diese Richtung: Die Scrum Alliance hat das bisher zweitägige „Certified Agile Leader I“ Programm in drei eintägige Module aufgespalten, die man sich je nach eigener Situation zusammenstellen kann. Ob diese Häppchen langfristig nur eine weitere Option für Trainings bilden werden, oder die klassischen zwei- bis fünftägigen Trainings verdrängen werden, ist unseres Erachtens noch nicht absehbar.
Es geht um Fähigkeiten
Verschiebt sich ein wesentlicher Teil der Trainings auf kleinere Häppchen, entsteht ein weiterer Trend, der bereits vor Corona sichtbar war: Diese Häppchen können auf Dauer nicht alleine für sich stehen, sondern müssen aufeinander aufbauen und es den Teilnehmer*Innen erlauben, sich individuelle Pfade zusammenzustellen. Zu Ende gedacht führt dies hin zu kompletten Lernreisen, die über Monate oder sogar Jahre laufen. Gerade im Inhouse Bereich stellen wir zunehmend auch Lernreisen als Kombination aus klassischen Trainings, Live-Online-Trainings, Kohortenarbeit und individuellen Coachingangeboten zusammen, die individuell auf die Bedürfnisse der Kunden zugeschnitten sind. Hier zeigt sich ein allgemeiner Trend in der Personalausbildung: Weg von den punktuellen Trainings hin zum systematischen Aufbau von Fähigkeiten. Die Grenze zwischen Training über Mentoring hin zum Coaching wird dadurch fließend, nicht nur in der Ausbildung der Führungskräfte.
Ob dieser Aufbau von Fähigkeiten innerhalb oder außerhalb von Zertifizierungsprogrammen geschieht, ist eine individuelle Entscheidung der Kunden und steht nicht mehr am Anfang
Noch sind die zugrundeliegenden Geschäftsmodelle unerprobt und wenn es an die wirtschaftlichen Details geht, sieht das Verhandlungsergebnis oft genug doch wieder recht konventionell aus. Wir rechnen aber nicht damit, dass das in fünf Jahren noch immer so ist.
Die Experten starten langsam die Diskussion über ein Ende der Pandemie und eine Rückkehr zu dem Leben zuvor. Für das Trainingsgeschäft ist aber klar, dass es keine solche Rückkehr geben wird. Es ist einmal wieder Zeit für einen Wandel.