17.01.2010
/ Von Christoph Mathis

Was heißt Selbstorganisation

Selbstorganisation heißt nicht, dass das Team über seine Ziele autonom entscheiden kann. Es heißt auch nicht in jedem Fall, das Team könnte über seine Zusammensetzung entscheiden.

Selbstorganisation heißt, das Team bestimmt, wie es auf seine Umgebung reagiert. Und nur wenn diese Möglichkeit hat, bildet sich eine Gruppe von Menschen zu einem Team heran.

Die Umgebung des Teams allerdings kann man als Manager / Leiter / ScrumMaster beeinflussen.  Das ist nichts, was nicht transparent gemacht werden könnte und hat nichts mit unfairer Manipulation zu tun, die hier keinesfalls empfohlen werden soll.

Systemtheorie

Die Systemtheorie in der Biologie (wesentliche Namen sind  Maturana und Varela) beschreibt die Selbstorganisation lebender Systeme mit den Haupt-Begriffen

  • Homöostase – Selbstorganisation, das Bestreben eines Systems eine innere Stabilität zu erreichen
  • Autopoiesis – Selbsterstellung/Selbsterzeugung, der Prozess der Entstehung und Weiterentwicklung eines Systems.

In der soziologischen Systemtheorie (der prominenteste Vertreter ist wohl Niklas Luhmann) wird dieser Ansatz weiterentwickelt und auf ein breites Spektrum von Anwendungsbereichen angewandt:

  •  Es werden ausdifferenzierte Funktionssysteme in der Gesellschaft beschrieben
  • Ein wichtiger Begriff ist immer eine Leitdifferenz System / Umwelt, d.h. die Festlegung, wie sich das Innenleben und die Abläufe eines Systems von der Außenwelt unterscheiden
  • Die Form der inneren Abläufe, immer eine Art von Kommunikation

Ein wichtiger Aspekt betrifft noch die Steuerbarkeit eines Systems (Förster):

  • Beobachtung und Intervention von außen schaffen ein neues System unter Einbeziehung des Beobachters

Das klingt schon fast wie eine soziologische Art der Quantentheorie.

Und ein praktisch wichtiger Punkt kommt noch mit der Beschreibung von Schleifen (Bateson, Watzlawik):

  • Wer scheitert, passt zunächst seine Vorgehensweise an (Feedback)
  • Er kann auch zum Ergebnis kommen, dass Situation/Strategie/Ziel nicht zusammenpassen
  • Das kann zur Reflexion führen, dass mit dem Lernen etwas nicht stimmt
  • Das ist bekannt unter dem Begriff des Double Loop Learning: die Überlegung, wie das Lernen verbessert werden kann – das bricht Denkmuster auf und wirkt selbststeuernd auf ein System ein.

Komplexe adaptive Systeme

Im angelsächsischen Raum ist eine andere Beschreibungsmethode populärer: Komplexe adaptive Systeme (Complex Adaptive Systems, CAS). Diese beschreiben

  • Ein dynamisches Netzwerk von Akteuren, die parallel handeln und aufeinander reagieren
  • Kontrolle ist dezentral
  •  Das Verhalten des Systems wird durch eine große Menge von Entscheidungen getroffen, die kontinuierlich und parallel von den Akteuren getroffen werden

Beispiele für solche komplexen Systeme sind

  • Autofahrer
  • Bienenstock
  • Die Zuschauer, die in ein Stadion zum Fußballspiel wollen
  • Ein Softwareteam

Kontrolle und Anreize

In jedem dieser Systeme gibt es Kontrollen und Anreize

  • Autofahrer: Fahre in Richtung Deines Ziels und bleibe auf der rechten Seite der Strasse
  • Bienenstock: Produziert Honig
  • Die Zuschauer: Kaufe eine Karte, gehe durch die Eingangskontrolle und gehe dann auf Deinen Platz
  • Ein Softwareteam: Ziele und Anreize können von Managern und Leitern gesetzt werden .. oder von Teammitgliedern

Praktische Modelle

Praktische Modelle beschrieben Ansätze, wie man auf Basis dieser Erkenntnisse einem Team gezielt Anstöße geben kann, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln:

  • CDE: Containers, Differences and Exchanges von Glenda Eoyang
  •  Sieben Hebel (Seven Levers) von Philip Anderson

In der Scrum-Community wurde diese Ansätze durch Mike Cohn in verschiedenen Vorträgen bekannt gemacht.

Das CDE-Modell

Das CDE-Modell beschreibt

  • Container, d.h. die Umgebung
  •  Differences, Unterschiede und Verschiedenheit zwischen Mitgliedern eines Teams
  • Transforming Exchanges, d.h. die Interaktionen bzw. den Informationsaustausch zwischen den Teammitgliedern.

Das CDE-Modell kann man durch Eingriffe in diese Elemente nutzen:

Container

  • Teams vergrößern oder verkleinern
  • Grenze der Verantwortung eingrenzen oder ausweiten
  • Wechsle Teammitgliedschaften aus
  • Schaffe neue Teams

Differenzen

  • Verlange keine Harmonie
  • Kreativität braucht Spannung
  • Stille Ablehnung ist schlechter als intensive Diskussion, die evtl. zu einer Änderung von Verhalten führt
  • Stelle harte Fragen
  • Fordere vom Team, Antworten zu entwickeln

Transforming Exchanges

  • Ermutige die Kommunikation zwischen Teams
  • Wer schweigt, sollte aber sprechen?
  • Bringe Personen in den Austausch oder nimm sie heraus
  • Ändere Reporting-Beziehungen
  • Setze Personen an andere Plätze / Rollen
  • Ermutige Lernen

Andersons Pfad der Selbstorganisation

Anderson nutzt intensiv biologische Begriffe in der Beschreibung von Teams, er sagt, Selbstorganisation passiert nicht nur einmal

  • Ein Team ist niemals damit fertig
  • Das Team reagiert kontinuierlich auf seine Umgebung und passt sich an

Wenn man beobachtet, wie sich das Team (re-)organisiert, kann man den Weg dieser Anpassung beeinflussen – aber man kann ihn nicht kontrollieren, ohne das Team als funktionierendes System zu zerstören.

Wir können das als Evolution des Teams betrachten.

Evolution ist das Ergebnis von drei Elementen: Variation, Selektion, Beibehalten

Am Beispiel einer Giraffe heißt das

  • Variation: eine Mutation führt zu einem längeren Hals
  • Selektion: Der lange Hals führt zu einem Konkurrenzvorteil und zu einer höheren Chance auf Überleben und Fortpflanzung
  • Beibehalten: die Mutation wird an die Nachkommen weitergegeben

Andersons Idee ist nun, diese Konzept auf Teams anzuwenden und er identifiziert dazu sieben Hebel. Die sieben Hebel zum Beeinflussen von Team-Evolution sind

  1. Auswahl der externen Umgebung
  2. Definieren von Performance
  3. Managen von Bedeutung
  4. Auswahl von Personen
  5. Rekonfigurieren des Netzwerks
  6. Entwicklung zielgerichteter Selektionssysteme
  7. Dem System Energie zuführen

1. Auswahl der externen Umgebung

Nicht nur der physischen Umgebung

  • In welcher Branche arbeiten wir
  •  Der Ansatz der Firma zu Innovation
  • An welchen Projekten arbeiten wir und wie vielen werden in die Organisation eingeführt
  • Erwartungen über Multitasking und Fokussierung

2. Definieren von Performance

Die Merkmale, die uns helfen zu überleben, werden tendenziell beibehalten

Manager und Leiter senden Signale, welche Merkmale beibehalten werden sollten

Welche Signale schickt Ihre Organisation über die relative Wichtigkeit von kurz- und langfristiger Performance?

Welche Signale werden geschickt, wenn

  • Trainings angeboten werden
  • Arbeit in nachhaltiger Geschwindigkeit möglich ist
  • Beschäftigte haben Zeit, wilde Ideen auszuprobieren
  • Einhalten einer Deadline ist nicht wichtiger als unpflegbarer Code

3. Managen von Bedeutung

Individuen in einem komplexen System reagieren auf Signale

  • Bienen reagieren auf „Gefahr“-Signale

Leiter können Signale in das System senden

  • Z.B. das Team in Kontakt mit dem Kunden bringen

… oder Signale heraushalten

Bedeutung entsteht oft aus Geschichten, Ritualen und Mythen, die erzählt werden

  • „Wir werden dieses Jahr profitabel“
  • „Unser GF kontrolliert jeden morgen um 6h, welche Autos schon da sind“

4. Auswahl von Personen

Wer Mitglied eines Teams ist, beeinflusst natürlich dessen Selbstorganisation

  • Anpassen von Teamgröße, Arbeitsort, Hintergrund, Erfahrung, Skepsis, Entscheidungsfindung, Geschlecht, Motivation, …
  • Manche Personen wirken wie Klebstoff aus den Zusammenhalt des Teams

5. Rekonfigurieren des Netzwerks

Kommunikationswege können wichtiger als die konkreten Individuen sein

  • Formal
  • Informell

Man kann neue Informationsflüssen einführen oder ausschliessen

  • Andere Teams, Teameinteilung
  • Experten
  • Kunden

6. Entwicklung zielgerichteter Selektionssysteme

Variation, Selektion, Beibehalten

Warten bis der Markt wirkt, dauert zu lange und ist riskant

Firmen entwickeln zielgerichtete Selektionssysteme

  • Vergütungssysteme
  • Retrospektiven
  • Googles 20-Prozent-Regelung

7. Energie zuführen

Wenn ein System keine zusätzliche Energie erhält, setzt die Entropie ein

Stelle sicher, daß das Team ein klares positives Ziel hat

Motivation

  • Team Chartering, Sichtbare Vision, Presse-Releases diskutieren, Elevator Statement

Gelegenheiten

  • Lernen, wichtige Rolle im Unternehmen, in noch bessere Projekten arbeiten

Information

  • Kundenbesuche, Training, Konferenzen

Bei der Vorbereitung auf mein Seminar „Selbstorgansierte Teams coachen“ bin ich wieder auf einen Satz von Vorträgen von Mike Cohn gestossen. Daher habe ich meine Idee zur Zusammenstellung dieser Beschreibung. 

Artikel wurde in den Warenkorb gelegt.