19.05.2014
/ Von Jens Coldewey

„Wir sind ja auch agil, wir haben ja auch ein Team, das dieses SCRUM macht! Wofür steht die Abkürzung eigentlich?…“ Wer sich auf Konferenzen und Netzwerktreffen als agiler Coach outet, kennt diesen Satz zur Genüge. Und er weiß auch, dass der Satz ein Oxymoron ist, ein Widerspruch in sich: Nur weil irgendwo in der Organisation ein Team den Mut und die Kraft gefunden hat, sich gegen etablierte Managementansätze abzukapseln und Scrum zu machen (und hoffentlich weiß, dass das keine Abkürzung ist), ist die Organisation noch lange nicht agil. Aber was macht denn nun eine agile Organisation aus?

Vorweg: Dazu gibt es keine allgemein etablierte Definition. In unserem Coaching-Alltag hat sich allerdings eine Sicht herausgebildet, die fünf Ebenen einer agilen Organisation differenziert (wir haben der Versuchung widerstanden, das „Reifegrade“ zu nennen ;-).

Die erste Ebene nennen wir „Agile Delivery“. Sie beschreibt die Fähigkeit eines Teams, wertschöpfende, qualitativ hochwertige Software in kurzen Zyklen in Produktion zu setzen und systematisch aus den Erfahrungen zu lernen. Hier spielen Ansätze wie Scrum, XP, agile Entwicklungstechniken oder Kanban eine wichtige Rolle.

Die zweite Ebene ist „Agile Scaling“, also die Fähigkeit mehrerer Teams, koordiniert wertschöpfende, qualitativ hochwertige Software in kurzen Zyklen ausliefern zu können und gemeinsam systematisch voneinander zu lernen. Je nach Anzahl der Teams kommen hier leichtgewichtige Ansätze wie Communities of Practice in Frage, aber auch „schwerere Geschütze“ wie Portfolio Kanban bis hin zu Frameworks wie SAFe.

Die nächste Ebene ist „Agile Business“, also die Fähigkeit des Unternehmens, die Agilität ihrer Entwicklungsmannschaft in Marktpotenzial umzusetzen. Auf dieser Ebene geht es plötzlich nicht mehr (nur) um „ein bisschen“ Produktivitäts- und Qualitätsgewinn, sondern um ein anderes Agieren am Markt. Hier wird die Luft an „vorgefertigten Frameworks“ langsam dünner. Die Ideen von Lean Startups und evolutionärer Produktentwicklung gehören hier sicher zum Standardrepertoire, aber auch klassische Wettbewerbslehre.

Als vierte Ebene sehen wir das „Agile Management“. Hier geht es darum, das tayloristische Erbe des „heroischen Managements“ abzuschütteln und den Manager nicht mehr als den „Macher“ zu verstehen, der dafür sorgt, dass seine schlecht qualifizierten „Untergebenen“ ihre Arbeit machen. Stattdessen versteht sich ein agiler Manager als „Katalysator“ (danke an Bill Joiner für die Metapher!), der eine hochqualifizierte Mannschaft aufbaut und ihr ermöglicht, hervorragende Leistungen zu bringen. Agile Manager fordern Retrospektiven ein und beweinen nicht die vermeintlich „unproduktive“ Zeit. Laut Joiner ist ein solcher „post-heroischer“ Managementansatz vor allem mit einer Managementtugend eng korreliert: Mit der Fähigkeit des Managers zur Selbstreflektion. Aber auch Werkzeuge wie Delegationslevel oder Real Options und systemische Modelle wie Human Systems Dynamics sind hier hilfreich.

Auf fünfter Ebene findet sich schließlich die „Agile Organisation“. In diesen Organisationen haben alle Managementebenen die Idee der lernenden Organisation verinnerlicht. Sie verstehen ihr Unternehmen als ein auf Feedback basierendes komplexes System, das sich durch Experimente und offene Kommunikationsformen weiter entwickelt und durch solides Handwerk und ergebnisorientierte Controllingwerkzeuge seinen Auftrag erfüllt. Wirklich agile Organisationen gibt es bisher nur wenige am Markt und entsprechend wenig Erfahrungen oder gar Frameworks. Zu den interessantesten Ansätzen zählt hier sicherlich die Beyond Budgeting Bewegung auf Seite des Controllings und neue Führungsansätze.

Auch wenn viele Organisationen diese Ebenen in der Regel von „unten nach oben“ ausprägen, muss sie doch vom Beginn weg an allen Ebenen gearbeitet werden. In der Regel kommen nur kleine Startups komplett ohne Scaling Ansätze aus (es muss ja nicht gleich SAFe sein). Wenn das Business in Form des Product Owners nicht versteht, was er an einem agilen Team hat, wird sich die Einführung nur schwerlich rechnen. Auch das enthusiastischste agile Team wird irgendwann entnervt aufgeben und in der Regel kündigen, wenn das Management jede Retrospektive als Verschwendung ansieht und die Organisation muss der „agilen Insel“ zumindest ausreichend Freiraum lassen, um wenigstens vom Standardvorgehen abzuweichen. Wenn Transitionen scheitern, dann oft an der fehlenden Bereitschaft des Managements, die eigenen (Vor-)Urteile und Modelle zu hinterfragen und sich aus der „Macher-Attitüde“ zu befreien.

Ein gutes Coaching setzt daher auf allen diesen Ebenen an. Nicht gleichzeitig und nicht auf allen Ebenen in gleicher Intensität, aber der Coach muss alle diese Ebenen berücksichtigen und jeweils dort ansetzen, wo sich aktuell die besten Hebel versprechen. 

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