Klimawandel
08.01.2021
/ Von Sabine Canditt

Alle reden von Corona – der Klimawandel ist scheinbar in den Hintergrund gerückt. Auch wenn Corona dringlicher erscheint, dürfen wir das Klima nicht auf die lange Bank schieben: um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, können wir uns nur noch 0,5 Grad Erwärmung leisten. Ich habe im letzten Jahr mein persönliches Klimaprojekt im privaten Bereich durchgeführt und mich dabei gefragt, welche Wirkung ich darüber hinaus erzielen kann. Wie kann ich meine Fähigkeiten als agile Coachin und meine Kontakte im Sinne des Klimas einsetzen? Wie kann ich mich weiter vernetzen, um zu beeinflussen und beeinflusst zu werden? Dieser Blog-Artikel ist ein erster Schritt dazu.

Langfristiges Denken und Agilität – ein Widerspruch?

Der agile Management-Vordenker Steve Denning bezeichnet in seinem Buch “The Age of Agile” die Ausrichtung eines Unternehmens weg von der internen Hierarchie hin zum Kund:innenennutzen, also von der Innensicht zur Außensicht, als Paradigmenwechsel. Die Bewältigung der Klimakrise und anderer Nachhaltigkeitsthemen erfordert aus meiner Sicht einen weiteren Paradigmenwechsel: die Außensicht muss von den Kunden auf ganze soziale, politische und ökologische  Systeme erweitert werden, wodurch die Komplexität steigt.

Gleichzeitig müssen wir wieder langfristig denken. Bei der agilen Planung propagieren wir kurze Zyklen, damit wir möglichst bald ein Feedback von Kund:innen und Nutzer:innen zu Annahmen und Produktneuigkeiten bekommen. Sehr häufig beschränkt sich die Planung auf den kurzen Zeitraum eines Sprints von etwa zwei Wochen. Man hat vielleicht noch das nächste Release oder MVP (Minimum Viable Product) im Blick, das alle drei bis sechs Monate geplant ist. Bei den Zeiträumen, die für Klimaeffekte zu berücksichtigen sind, reden wir nicht von Wochen oder Monaten, sondern von Jahrzehnten und Jahrhunderten und Jahrtausenden, da Klimaänderungen vor allem durch träge Komponenten wie Ozeane und die Biosphäre bestimmt werden.  Das sind Zeiträume, die nicht nur den Aktionsradius unserer demokratisch gewählten Politiker:innen deutlich überschreiten. Unser menschliches Gehirn, das auf das Erkennen kurzer Kausalketten optimiert ist, hat generell damit so seine Probleme.

Wenn wir heute unseren Stromverbrauch reduzieren, wird sich das relativ schnell auf den CO2-Gehalt in der Atmosphäre auswirken – aber erst sehr viel später auf die Höhe des Meeresspiegels. Zum Glück gibt es Modelle, die diese Zusammenhänge verlässlich vorhersagen können. Dadurch wird es möglich, Indikatoren für die Wirkung unseres Handelns in kurzen, agilen Zeiträumen zu finden. Wir haben kein Erkenntnis- sondern ein Umsetzungsproblem – und ein Verdrängungsproblem, gekoppelt mit Gefühlen der Überforderung und Ohnmacht. Der Ohnmacht kann man entgegentreten indem man Aktionen auf kleine, greifbare Schritte herunterbricht. Nachhaltige Agilität bedeutet für mich: langfristig denken – kurzfristig handeln.

Konkret können wir:

  • Als Führungspersönlichkeiten und Mitarbeitende in einer Firma eine nachhaltige Unternehmensstrategie entwickeln und Unternehmenskultur und Arbeitsweisen entsprechend anpassen. 
  • Als Produktverantwortliche Klimaziele unserer Produkte genauso ernst nehmen wie Business-Ziele. 
  • Als (agile) Coaches und Individuen den eigenen CO2-Fußabdruck reduzieren, informiert sein, Bewusstsein schaffen, Einfluss nehmen. 

Die aktuelle Lage beim Klimawandel

Corona hat gezeigt, wie schnell sich Menschen als Experten fühlen und glauben, es an Kenntnis mit jedem Virologen aufnehmen zu können – oder aber auf Fake News und Behauptungen hereinfallen und Fakten verleugnen. Wir können dazu beitragen, Halbwissen, Bauchgefühl und dadurch verursachte Ängste durch Fakten zum Klimawandel zu ersetzen und in gangbare Schritte und Aktionen herunterzubrechen, die von einem großen Teil der Wissenschaft geteilt werden. Gute und verlässliche Quellen sind das Deutsche Klimakonsortium (DKK) oder der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). 

Das DKK fasst die fünf Kerninfos zum Klimawandel so zusammen:

  1. Er ist real. 
  2. Wir sind die Ursache.
  3. Er ist gefährlich.
  4. Die Fachleute sind sich einig.
  5. Wir können noch etwas tun. 

Die Konzentration von Kohlendioxid und Methan, die die Ursache für den schädlichen und menschengemachten Treibhauseffekt ist, hat seit Beginn der Industrialisierung dramatisch zugenommen durch Verbrennung der fossilen Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas (CO2) sowie durch die intensive Landwirtschaft (Methan).

Die Lufttemperatur hat sich seit der vorindustriellen Zeit bereits um 1 Grad Celsius erwärmt, in Deutschland sogar um 1,9 Grad. Das Tempo des Temperaturanstiegs nimmt zu. Das Meer- und Festlandeis schmilzt, der Meeresspiegel steigt, die Ozeane versauern, Wetterextreme wie Dürren, Stürme und Starkniederschläge nehmen zu, Ernteerträge sinken. Auch in Deutschland sind diese Effekte zu beobachten, z.B. durch Veränderungen in der Pflanzen- und Tierwelt und gestiegenes Waldbrandrisiko.

Mit Hilfe von Klimamodellen ist es möglich, die reale Klimaentwicklung zutreffend vorherzusagen. Bei ungebremsten Emissionen könnte bis Ende des Jahrhunderts die Erwärmung im weltweiten Durchschnitt mehr als vier Grad Celsius betragen. Auf dem UN-Klimagipfel von Paris im Jahr 2015 wurde beschlossen, dass der globale Temperaturanstieg auf „deutlich unter zwei Grad Celsius“ gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden soll, möglichst sogar auf 1,5 Grad. Das sind nur noch 0,5 Grad mehr als jetzt! Setzt sich der bisherige Erwärmungstrend fort, so könnte diese Grenze jedoch bereits in gut einem Jahrzehnt überschritten werden. Selbst alle Zusagen für Emissionsminderungen, die bisher von den Regierungen gemacht wurden, genügen lediglich für eine Begrenzung der Erwärmung auf rund 2,8 Grad. Daran ändern auch die kurzzeitigen Verringerungen der Treibhausgas-Emissionen während der Covid19-Pandemie nichts. Dennoch birgt die Pandemie Chancen: eine kohlenstoffarme Erholung könnte 25 % der Emissionen einsparen, die für 2030 erwartet werden (Emission Gap Report 2020). 

Auch wenn es zweifellos eine große Herausforderung ist: Schnelle und drastische Minderungen der Treibhausgas-Emissionen sind möglich, das zeigen zahlreiche Studien und auch praktische Erfahrungen. Viele der dafür notwendigen Technologien existieren und sind teilweise bereits unter den heutigen politischen Rahmenbedinungen finanziell konkurrenzfähig. 

Was wir tun können…

…als Unternehmen

Viele Unternehmen tragen aufgrund  ihrer Geschäftspraktiken zu Umweltproblemen bei, sie besitzen jedoch auch die Macht und die haben Möglichkeiten, eine Wende in die Wege zu leiten. Der Druck zu derartigen Veränderungen wächst durch das gesteigerte Umweltbewusstsein von einzelnen Führungskräften, Kund:innen, Mitarbeitenden und der Gesellschaft, Investor:innen und verschärften Vorgaben. Es entstehen neue Chancen, die nach einer Umfrage der Londoner Non-Profit-Organisation Carbon Disclosure Project (CDP) mit 2,1 Billionen US-Dollar als doppelt so hoch beziffert werden wie die Risiken. Dennoch stellt Deloitte in einer Studie fest, “dass die meisten europäischen Unternehmen die absehbaren Auswirkungen des Klimawandels noch nicht ausreichend berücksichtigen und entsprechende Anpassungsmaßnahmen ergreifen”. 

Wie eine agile Transition ist auch dieser Wandel vor allem eine Frage der Kultur und des Mindsets. John Elkington, Vordenker auf dem Gebiet der Unternehmensverantwortung und des nachhaltigen Kapitalismus, schreibt: “Grundsätzlich haben wir ein fest verdrahtetes kulturelles Problem in Wirtschaft, Finanzen und Märkten. Während CEOs, CFOs und andere Unternehmensführer Himmel und Erde in Bewegung setzen, um sicherzustellen, dass sie ihre Gewinnziele erreichen, gilt das Gleiche nur sehr selten für ihre Ziele in Bezug auf Menschen und Planeten.” Hier sind die Eigentümer und Führungskräfte gefragt. Wir brauchen einen Systemwandel, der nach agilen Prinzipien geführt und durchgeführt werden kann:

  1. Den “Purpose” und die Vision des Unternehmens mit Nachhaltigkeit in Einklang bringen. Dies ist für viele Mitarbeitende ein wichtiger Faktor für die Identifikation mit ihrem Unternehmen und damit für ihre Motivation sich einzubringen.
  2. Emissionsziele und die Strategie zu ihrer Erreichung definieren. Die Ziele werden aus einer Bewertung der klimabedingten Risiken (z.B. Unterbrechung von Lieferketten) und Chancen (z.B. Kostenreduktion durch verbesserte Energieeffizienz) hergeleitet.
  3. Ein Backlog erstellen mit Maßnahmen, die nach ihrer Wirkung auf die CO2-Emissionen bewertet wird.
  4. Eine Umgebung für die Motivation (materielle und nicht-materielle Anreize), Befähigung und Ermächtigung für funktionsübergreifende Teams schaffen, die an der Umsetzung des Backlogs arbeiten. 
  5. Kennzahlen zur Messung und Steuerung der Klimawirkung etablieren und transparent machen, z.B. in Form eines Nachhaltigkeitsberichts oder leichtgewichtiger (Gemeinwohl-Bilanz, ClimatePartner). 
  6. Aus Erfahrungen lernen. Unterschiedliche Vereinigungen helfen dabei, dass Unternehmen sich untereinander vernetzen und ihr Klimaengagement sichtbar machen können, wie z.B. Wirtschaft pro Klima, Stiftung 2 Grad.

Ein Beispiel ist das Berliner Unternehmen Ecosia, das den Deutschen Nachhaltigkeitspreis 2021 gewann. Ecosia ist eine ökologische Suchmaschine, die ihre Werbeeinnahmen nutzt, um Bäume zu pflanzen. Wie bei allen Suchmaschinen wird auch bei Ecosia durch die Suche nach bestimmten Begriffen Werbung angezeigt. Mit jedem Klick auf diese Werbung verdient das Unternehmen Geld, wodurch alle 0,8 Sekunden ein Baum gepflanzt werden kann. Den aktuellen Stand kann man jederzeit auf der Webseite nachsehen. Im Moment sind es gerade 117.319.214. Wenn ihr diesen Artikel lest, sind schon wieder etliche dazugekommen. „Wir sind ein normales Unternehmen, aber wir sind nicht dazu da, um Shareholder reich zu machen“, sagt Christian Kroll, der Gründer von Ecosia. Kroll sagt auch, dass er nicht das höchste Gehalt in der Firma bekomme: „Ich bin nicht mal im oberen Drittel“. Aber man versuche marktübliche Gehälter zu zahlen, auch wenn Google-Mitarbeiter in Berlin sicher das Dreifache bekommen. „Wir wolle gute Leute haben, die für das brennen, was Ecosia macht“.

… als Produktverantwortliche

Apple, Facebook, Google und HP betreiben ihre Rechenzentren mindestens zur Hälfte mit klimafreundlichem Ökostrom. Hingegen setzen Amazon, Netflix, Pinterest und Spotify weiterhin auf Kohle- und Atomstrom. 

Bei einer ethischen agilen Produktentwicklung werden nicht nur Ziele für Kundenzufriedenheit und Geschäftserfolg definiert, sondern auch für Nachhaltigkeit. Dabei wird der gesamte Lebenszyklus des Produktes einbezogen, also etwa reduzierter Stromverbrauch bei der Herstellung, Verpackung, Transport, Betrieb und Recycling. 

Wer dabei vor allem an physikalische Produkte denkt, ist vielleicht von den folgenden Fakten genauso geplättet wie ich:

  • Die ICT (Information and Communications Technology)-Industrie könnte bis 2025 20% des gesamten Stroms verbrauchen und bis zu 5,5 % der weltweiten Kohlenstoffemissionen ausstoßen. Das wäre mehr als jedes Land außer den USA, China und Indien.
  • Die Internetnutzung in Deutschland produziert jedes Jahr so viel CO2 wie der gesamte Flugverkehr. Und die Menge könnte sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Weltweit produzieren IT-Geräte und -Anwendungen 800 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr – das entspricht in etwa den gesamten Treibhausgas-Emissionen Deutschlands.
  • Das Abspielen von Youtube-Videos verbraucht jährlich ungefähr so viel Strom wie das schottische Glasgow, immerhin eine Stadt mit 600 000 Einwohnern.
  • Die 2008 versendeten 62 Billionen Spam-Mails haben nach einer Studie von MacAffee 33 Milliarden KWh Strom verbraucht. Das ist soviel, wie 2,4 Millionen Haushalte pro Jahr verbrauchen.
  • Das gesamte Bitcoin-Netzwerk verbraucht mittlerweile mehr Energie als Österreich oder Kolumbien. 

Digitalisierung ist also nicht die Lösung des Klimaproblems, sondern kann es sogar verschlimmern. Da ein Großteil der agilen Produktentwicklungen mit Digitalisierung in Verbindung steht, besteht hier die Notwendigkeit und die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsaspekte wie andere nichtfunktionale Anforderungen zu berücksichtigen (zum Beispiel über User Stories oder eine Definition of Done).

… als Agile Coach

Als Coaches haben wir Zugang zu Führungspersönlichkeiten und Produktverantwortlichen, Teams und Unternehmen und können Einfluss ausüben. Unser Selbstverständnis verbietet es, unseren Klient:innen ein Thema wie Klimawandel aufzudrängen, wenn sie es nicht selbst auf der Agenda haben – aber wir können es auf unserer Agenda haben und Möglichkeiten nutzen, es einzubringen, z.B. bei der Auftragsklärung, oder bei Gesprächen über Werte. 

Der Klimawandel ist ein komplexes Problem. Agile Coaches  können mit Komplexität und Unsicherheit umgehen und wissen, wie wir ihnen mit systemischem Denken, interdisziplinären Teams und adaptiver Planung zu Leibe rücken können. Agile Coaches  sind bewandert in Methoden und Praktiken für Transitionen und Veränderungen – und können diese für einen klimafreundlichen Wandel einsetzen. Letztendlich können wir entscheiden, wie wir mit unseren Klient:innen zusammenarbeiten, und mit wem wir zusammenarbeiten.

Wenn wir andere authentisch zu einem Wandel bewegen wollen, müssen wir zuerst unser eigenes Bewusstsein schärfen und unser eigenes Verhalten verändern. Ein Vorbild für mich ist der Agile Coach und Certified Scrum Trainer Henrik Kniberg, den viele wahrscheinlich durch seine Videos (Spotify Engineering Culture, Product Owner in a Nutshell) kennen. Henrik ist aber auch Mitbegründer von GoClimateNeutral und hat dazu ebenfalls ein Video erstellt. Diese Organisation lässt Interessent:innen ihren aktuellen CO2-Fußabdruck ermitteln und auf Basis des Ergebnisses eine monatliche Gebühr zahlen. Dieses Geld wird in Klimaschutzmaßnahmen investiert, die von unabhängigen Organisationen verifiziert wurden. Also ein moderner Ablasshandel? Eine Studie belegt, dass Kompensationen den Ausgleich von schwer vermeidbaren Emissionen ermöglichen, was insgesamt zu mehr Klimaschutz führen sollte.

… als Individuum

Jeder Mensch trifft für sich eine Entscheidung, welche Werte er verfolgt und welchen Raum er welchen Themen in seinem Leben einräumt. Ich tendiere manchmal zu missionarischem Eifer, bin mir aber bewusst, dass ich nur einen einzigen Menschen verändern kann – mich selbst. Ich fühle mich verantwortlich als Mutter. Die “Fridays-for-Future”-Generation fragt zu Recht, wieso unsere Generation dabei zusieht, wie wir munter auf eine Katastrophe zusteuern. In Deutschland konnten wir bislang die durch das Klima verursachten Problem noch verdrängen, aber auf meinen (ökologisch unkorrekten) Reisen habe ich die vermüllten Strände in Vietnam gesehen, die verpestete Luft in chinesischen Großstädten eingeatmet und in Neuseeland den schmelzenden Gletschern nachgetrauert. 

Ich beteilige mich seit 16 Monaten an GoClimateNeutral, und zusammen mit den 6500 anderen Mitgliedern haben wir so 472.000 t CO2-Emissionen ausgeglichen. Ich habe meine Heizung erneuert, meinen Gefrierschrank entsorgt, moderne Energiesparlampen installiert, Ecosia als Suchmaschine benutzt, Fleisch weitestgehend von meinem Speiseplan gestrichen und auch vor Corona schon keine Dienstreisen mehr per Flugzeug gemacht. Kleine, relativ leicht durchzuführende Schritte reduzieren Komplexität und sind der beste Weg zu neuen Gewohnheiten (s. BJ Foggs, Tiny Habits). Ich kann noch viel mehr tun. Daher ist mein Guter Vorsatz für 2021: 

  • mehr über den Klimawandel lernen, 
  • mich mit anderen vernetzen und austauschen, z.B. durch meine Mitgliedschaft bei der Climate Coaching Alliance,
  • das Thema Klima in mein Portfolio als Agile Coach aufzunehmen und meine Leidenschaft dafür weiterzutragen.

Danke an Kerstin Hofstetter, Peter Jetter, Felix Canditt und Lukas Canditt für Feedback und inspirierende Ideen. Danke, dass ihr meine Leidenschaft teilt und unterstützt.

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