31.10.2014
/ Von Jens Coldewey

In meinem letzten Blog-Eintrag hatte ich über das Kanban-Objektiv geschrieben als ersten Schritt hin zu einer Kanban Einführung. Diesmal geht es darum, mit Hilfe eines Kanban Systems die ersten Veränderungen in der Organisation anzustoßen. Dieser Blog-Eintrag basiert ebenfalls auf einem Teil des Stoffs aus den ersten 90 Minuten unseres neuen Kanban Grundlagen Kurses.

Im letzten Blog-Eintrag hatte ich diskutiert, wie das Kanban Objektiv eine neue Sichtweise auf den Wertschöpfungsprozess liefert. Dabei ging es aber nur um Visualisierung, noch nicht um Veränderungen des Prozesses. In der Regel führt bereits diese Visualisierung zu neuen Erkenntnissen und Verbesserungen im Prozess, aber das ist noch nicht der eigentliche Kern von Kanban.

Dieser entsteht erst durch ein komplettes Kanban System, zu dem das Kanban Objektiv nur der erste Schritt ist.

Nachdem man den Wertschöpfungsprozess mit Hilfe des Kanban Objektivs visualisiert hat, wird es Zeit, die erste und vielleicht wichtigste Veränderung im Management anzugehen: Nicht mehr Mitarbeiter oder „Ressourcen“ zu managen, sondern den Durchfluss von Arbeitsergebnissen durch die Organisation. Ziel ist dabei normalerweise, eine möglichst hohe Durchflussrate zu erreichen, also z.B. eine möglichst kurze Zeit von der Idee bis zum Ausrollen am Markt. In Anlehnung an die Durchlaufzeit bei der Produktion wird diese Zeit auch „Lead Time“ genannt. Eine möglichst kurze Lead Time hat verschiedene Vorteile:

  • Sie erlaubt schnelle Reaktion auf Veränderungen im Markt, also Agilität im eigentlichen Sinne
  • Sie reduziert den Umfang der notwendigen Vorausplanung und damit den Verwaltungsaufwand
  • Sie erlaubt schnelleres Lernen und vermindert damit das wirtschaftliche Risiko
  • Sie reduziert insgesamt das Risiko – was fertig ist, ist fertig

Kanban geht diese möglichst kurze Lead Time von der Prozessseite aus an und ergänzt sich damit sehr gut mit anderen agilen Praktiken wie Continuous Deployment, die das Problem von der technischen Seite angehen. Beide Konzepte können daher unabhängig voneinander genutzt werden.

Der einfachste Weg, den Durchfluss zu beschleunigen ist es, Liegezeiten zu eliminieren. Das hört sich einfacher an, als es ist, weil es oft die Art und Weise, wie Teams miteinander arbeiten vom Kopf auf die Füße stellt. Kanban bietet dafür ein einfaches Werkzeug an: Man begrenzt die Anzahl von Aufgaben, an denen gleichzeitig gearbeitet wird: das legendäre „Work in Progress Limit“, kurz „WiP Limit“. Spätestens wenn man dieses Limit erreicht hat, sollte man sich erst einmal darauf konzentrieren, die bereits angefangenen Aufgaben abzuschließen, statt immer neues halbfertiges Zeug zu produzieren. In der Regel wird nicht nur die Arbeit insgesamt limitiert, sondern jede einzelne Stufe im Entstehungsprozess erhält ihr eigenes WiP-Limit.

Je kleiner Aufgaben sind, umso leichter fällt einem das. Daher erzeugt Kanban Druck hin zu kleineren Aufgaben und Inkrementen, was wiederum die Reaktionsfähigkeit der Organisation verbessert.

Hat man einmal die Menge an Arbeit im System beschränkt, entsteht ein neuer Effekt: Sobald ein Stück Arbeit fertig gestellt ist, entsteht wieder Freiraum für neue Arbeit, das System zieht also genau so viel Arbeit ein, wie es erledigen kann. Dieses „Pull System“ funktioniert auch über mehrere Arbeitsstationen hinweg: Wenn die weiter hinten liegende Station neue Arbeit gezogen hat, wird an der Station davor wieder Platz, ebenfalls neue Arbeit zu ziehen. Ich stelle mir das immer vor, wie ein Strohhalm. Arbeitsstationen ohne WiP-Limit sind dabei wie Löcher in einem Strohhalm – sie geben den Unterdruck nicht weiter, das Pull System funktioniert nicht mehr.

Ein solches System funktioniert nicht auf Anhieb problemlos, sondern wird Schritt für Schritt aufgebaut. Dafür benötigt man ein System der kontinuierlichen Verbesserung, an der alle beteiligt sind. Hier ist nicht das zentralisierte „Vorschlagswesen“ gemeint, das schon in vielen Organisationen gescheitert ist, sondern eine Kultur, in der Entscheidungen so weit unten getroffen werden, wie möglich, und der Prozess denen gehört, die ihn für ihre Arbeit benötigen.

Erst diese drei Bestandteile, WiP-Limits, Pull-System und kontinuierliche Verbesserung bilden das eigentliche Kanban-System. Erst dieses System etabliert einen Lernzyklus und damit langfristigen Nutzen. Wer sich auf ein volles Kanban-System einlässt, wird das in der Regel über einen langen Zeitraum für Verbesserungen nutzen können. Wer eines der Elemente schleifen lässt, wird früher oder später keinen Wert mehr in Kanban sehen und irgendwann die „nächste Sau durch’s Dorf treiben“.

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